xte, "Werkaufenthalt Literatur" in den Ateliers im Alten Schlachthof e.V., September/Oktober 2021

https://www.schlachthof-sigmaringen.de/

 

An dieser Stelle stehen Texte, Bilder und Tonaufzeichnungen, die in der Auseinandersetzung und in der Begegnung mit Sigmaringen und den Menschen hier nach und nach zu einem offenen und doch bestimmten Ganzen werden mögen.

 

TAG EINS

Abbild und Wirklichkeit im Bild,

Öffnungen und Rundungen,

Litfaß und Unfassbares,

Begegnungen/Encounters, 

Farbe und Licht,

Texte im Kopf.

Warum eigentlich ehren Reiterstandbilder nie das Pferd? Schließlich hat es den größeren Kopf, und nicht nur der Kopf ist größer. Kein Kentaur. Unsere Furcht, den Kopf abzugeben und nur Körper zu sein.

Gefangen im Spiegel, la boucle bouclée ?




TAG ZWEI

Precedenza! Bella Italia a Sigmaringa.

... blicken, erkennen, verknüpfen, justieren und bestätigt werden an anderer Stelle. "Man sieht nur, was man weiß", meinte Goethe. 


Schenkt den Lebenden die Blumen, sagen wir uns oft. Dann rennen wir hin, zum Fleckchen Erde und begießen es mit Wasser. Die Toten erzählen die besseren Geschichten ... wirklich? Gottesacker. Kein schlechtes Wort. Grün ist die Hoffnung und dunkel ist der Tod.

Ein Appell ans Draußen, Ruf nach Leben. Hier könnte der Anfang stecken für eine Geschichte, für DIE Geschichte, die sich langsam, sicher aber langsam, zusammensetzt und etwas erzählen könnte über die Stadt, über Vichy-sur-Danube, die Deutschen und die Franzosen und überhaupt. Alles auf Anfang, dem Ende entgegen.

Ein Schwelbrand. Neue Kabelage, die keinen Komfort bringt, aber das Desaster. Stadt und Schloss, sagt man mir, zwei Köpfe, zwei Herzen. Kurz vor 1900. Die Schläuche von oben passen nicht auf die Stutzen unten. Wasser marsch, Fehlanzeige. Seither ziert Rauputz die Fassade, das Schloss spielt Reihenhausidyll. Und überall, an Wand und Tür, gerollte Vorsicht.



 

 

 

"Ob rechts die Vögel fliegen oder links,

Die Sterne so sich oder anders fügen,

Nicht Sinn ist in dem Buche der Natur.

Die Traumkunst träumt, und alle Zeichen trügen.“

 

Friedrich Schiller (Die Braut von Messina)

 



TAG DREI

OB MIR DIESER BAUKASTEN GENUG SEIN KANN?

Zwar nicht der weiße Rauch des Vatikan, aber Rom, immerhin. Kulturkampf, einst. Grablege der Hohenzollern Süd, noch immer. Während Hohenzollern Nord dem Calvinismus frönt. 

Thuya. Reihenhaus, sag' ich doch!




TAG VIER

Vom Marschieren, von der Zeit und von süßen Genüssen

 

Neue Schuhe? Kein Problem! Die Uhr ist futsch? Macht nichts: Was das Herz begehrt und was die Dringlichkeit fordert, um den Segen des Zeitlichen nicht zu versäumen, davon gibt’s zuhauf. Und dann, fragen Sie, was zur Beruhigung, was Süßes? Nur zu! Die Stadt schmilzt dahin für Speiseeis in alle Himmelsrichtungen.

  Woran das liegt, diese Dichte an Schuhgeschäften in Fidelis City, die ungezählten Schaufenstermeter der Uhrläden und die allgegenwärtige Charmeoffensive der Eisdielen? Vielleicht weiß es keiner. Und Interpretationen sind Unterstellungen.

Ein Leichtes zu denken, dass gutes Schuhwerk das Flüchten fördert (wovor, und vor allem: wohin?), dass Uhren, die man nicht aufzieht, die Zeit anhalten (und den anderen muss man die Batterie aus dem Bauch pulen), dass Eis das Ganze besser flutschen lässt, Weichspüler für harte Kost.

Und eine andere Variante? Da wären die Sohlen am Fuß das Fundament, um mit beiden Beinen fest im Leben zu stehen, die Zeitmesser wären galanter Schmuck – besonders für den Herrn, der sich sonst nichts traut – und Garant für Effizienz. Und der zarte Schmelz um die Lippen, die nippen am Überfluss der Lust, flüchtiges Schwärmen der Papillen.

Wer hier nicht findet, was er braucht, der findet's dort. Ein Ort der vielen Wege.


An der schönen braunen Donau ...

Linseneintopf in Donauwasser

Des Deutschen liebstes Bildnis



Die Stützen der Gesellschaft

eins–zwo–drei–vier

Uff der schwäbsche Eisebahne, Spur H0




TAG FÜNF

Pfullendorf –

alte Reichsstadt, reiche Altstadt.

Vom Parkhaus aus, wohin eine Blechkutsche mich bringt, geht mein erster Blick hinab auf dieses Haus. Und ich denke: Schiele! Egon Schiele! Der Filter im Auge bleibt. Manchmal als Scharfsteller, manchmal als Trübung. Und andere Male zur Freude. Es ist das unspektakulärste der Pfullendorfer Häuser, die ich sehen werde. Aber es bleibt das bedeutungsvollste.

Erste Male, male erst mal.

Meßkirch –

DENKWEGE MARTIN-HEIDEGGER-MUSEUM

Welchen Stern er wohl meint?

 

Zwischen Heidegger in Meßkirch, den Vichysten in Sigmaringen und Jünger in Wilflingen, welch „Spannungsachseˮ!

Ein Freund aus Frankreich, dem ich dies berichte, antwortet mir:

„Die haben keine Angst vor beschwertem Erbe.ˮ

Heidegger, encore.

… form follows function ...

Skulptur von Otto Wesendonck, 2008




TAG SECHS

Auszug N.N. (work in progress)

 

[...] Aus Begeisterung wohl verfiel er wieder ins Schwäbische. Er hob seinen Stock an und zeigte zur einen Seite. Das Schloss. Zur anderen eine Kuppel, ihre Anleihen italienisch. Die Hedinger Kirche, das sei, meinte er, die Grablege der Hohenzollern, dahinter der Friedhof für alle. Worauf es sich beziehe, wenn die Sigmaringer sie auch Erlöserkirche nannten, das zu beantworten sei, ergänzte er, jedem selbst überlassen. Wegen der vielen für den Kleinstaat notwendigen Verwaltungsgebäude, die sich hier aneinander reihten und wegen der früher fein gekleideten Herren, ja, genau deswegen habe man die Straße auch bezeichnet als Zylindergasse. Oder, ergänzte er, und dabei senkte sich sein Blick und suchte im Asphalt die Weite, weil das der Weg, ja, hauchte er, weil das der Weg gewesen sei für die Beerdigungszüge von den anderen Kirchen hinaus zum – und er hielt inne, blieb stehen, schaute auf und mir direkt in die Augen – »zum Goddesäggerle«. [...]


Französische Präsenz im Stadtraum, die erste sichtbare.



TAG SIEBEN


My home is my castle.

My castle is my home.




Ich mag es nicht, wenn es heißt: "Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte."

Aber dann ... gibt es Bilder, die tatsächlich ...

Ach, dieses Unvermögen, vermögend zu sein an Buchstaben, die in eine sinnvolle Reihe sich fügen mögen.

Ach ...



Neuen Wohnraum braucht das Land.



TAG ACHT

 

EINE RUHIGE KUGEL SCHIEBEN

Boule spielen in Sigmaringen

 

In fünfzehn Jahren Frankreich habe ich nicht ein einziges Mal mit den schweren Kugeln hantiert, nie bin ich auf einen Schotterplatz gegangen, auch nicht zum Zuschauen. War es mir zu sehr Klischee? Oder lief es einfach ab, das Spiel, mal hier, mal dort, als eine Art Zubehör im Dekor, auf das mein Schauen die Welt um mich herum reduziert hatte?

  Es gibt Fragen, auf die es nach Jahren keine glaubwürdigen, keine nachvollziehbaren Antworten mehr gibt. Aber nach Jahren gibt es stets eine neue Gegenwart. Und die lässt sich gestalten.

  Als ich hörte, dass mittwochs Boule gespielt wird, irgendwo draußen an den Fransen der Stadt, zwischen Autohaus, Fußballplatz und Schnellstraße – convenience ist das Wort, ausgelagert aber bequem zu erreichen für den mit anderen, fahrbaren Rundungen verwachsenen Spieler –, da ließ ich mich begeistert einladen, selbst einmal die ruhige Kugel zu schieben. Zu legen, wie ich gleich lernte. Und ruhig muss nur das Anvisieren sein, die Geste. Der Wurf darf Schmackes haben, aber bitte nur so weit wie nötig. Ein Spiel des Austarierens, merke ich schnell; der präzisen Geste, der richtigen Einschätzung. Und ein Spiel des Miteinander, des gemeinsamen Ringens, um das Gesamtbild, mal von hier, mal von dort betrachtet, richtig einzuschätzen. Das ideale Spiel für angehende Diplomaten. Oder für Führungspersönlichkeiten mit Teamgeistdefizit.

 

Zu Beginn läuft es recht gut, ich stelle mich nicht zu ungelenk an. Anfängerglück. Und es ist die Intuition, die den Lauf hat. Je mehr ich allerdings beobachte, links und rechts, bei den anderen Partien, je mehr der eine oder der andere mir etwas erläutert, mir die Regeln erklärt, desto ungenauer werden meine Kugelkünste. Aber meine Mitspieler sind gnädig und charmant, relativieren die Würfe, ermuntern mich. Sie lassen mir die Chance, dass das Ganze Spaß macht. Und es macht mir Spaß. Die Wetten mit mir selbst stehen gut, dass ich weitermache, dass ich es nochmal erleben möchte, das Hin und Her der Kugeln. Und wer weiß, aus dem Peutêterle, wie die Unterländer meiner Jugend sagten, wird noch ein Toujourle. Dass ich die Quintessenz des französischen Spiels, das bei den Nachbarn eher pétanque heißt, ausgerechnet in Sigmaringen zum ersten Mal selbst ausprobiere, liegt … ja, woran liegt das wohl?

  Es gibt auch Fragen, auf die es sofort, in der Gegenwart, keine glaubwürdigen Antworten gibt.



TAG NEUN

 

Unerhörtes Erleben

 

Am Abend liest Marion Tauschwitz. Sie liest aus ihrem Erinnerungsbuch Das unverlierbare Leben. Es sind Erinnerungen an Hilde Domin.

  Der Saal ist voll. Weißes Haupthaar dominiert das Bild. Ja und? Die Frage der Weitergabe, immer wieder. Wo ist jetzt die Jugend, die in fünfzig Jahren in solchen Sälen sitzen wird? Wenn sie jetzt nicht da sind, die neuen Hörer, die Begeisterten, die Hinterderheizungvorkriecher, die alles stehen und liegen lassen, um einen Augenblick gemeinsam zu erleben, sich zu versammeln, einem Gedankenstrahl zu folgen, der Schwingung einer Stimme – ohne Kristallpixel als Filter –, woher, ja, woher sollen wir den Glauben nehmen, es könnte künftig einer den Kelch weiterreichen? Es wird andere Formate geben. Aber Formate sind keine Inhalte, Marshall McLuhan hin oder her („The medium is the messageˮ). Was mir wert und wichtig ist, wird nichtig werden. Ein trauriger Gedanke. Es ist der Kampf um Aufmerksamkeit in der Aufgeregtheitsökonomie, die wir uns leisten. Doch all dies ist eine andere Debatte. Und doch hat es zu tun, dies alles, mit der Lesung, mit dem Abend.

  Marion Tauschwitz liest nicht, sie spricht. Sprechen ist Kino im Kopf. Ich schließe die Augen und es verwischen im Ohr die Übergänge, wenn die Autorin ins Publikum blickt und spricht, oder wenn sie ins Buch schaut – und spricht. Der Faden des Erzählten spinnt sich und spannt sich durch die Zeit der Erinnerungen, er wirkt sich durch den Raum des achtsamen Zuhörens. Ich sitze seitlich, kann alle im Saal sehen. Kaum einer, fast keiner der Körper bewegt sich, die ganze Stunde und länger nicht. Hier und dort und weiter hinten: Körper und Körper, deren Geist voll auf Empfang ist, dutzendfach. Ich könnte sie zeichnen, die Kräuselkurven, die hin- und hersurfen. Kein Ritt auf der Welle, alle sind die Welle.

  Wir erfahren vieles über die Begegnung der beiden Schreibenden, und wie, so sagt es Marion Tauschwitz, jede Lebensphase, einzelne Momente gar im Leben Hilde Domins ihren Gedichten recht leicht und geradeheraus zuzuordnen sind. Auch die gemeinsamen Reisen, das gemeinsame Arbeiten um das Werk Domins herum – Marion Tauschwitz wird ihre Vertraute, assistiert, steht ihr zur Seite – werden nicht erzählt als Anekdoten ohne Bezüge zum Werk. Alles scheint aufgehoben, bewahrt, und der Umgang mit der Lyrikerin, das klingt durch, muss herausfordernd gewesen sein, nicht immer kam es sanft zurück, was behutsam hingegeben wurde. Was bleibt, so nehme ich es wahr, ist dennoch mit dem Wort „delikatˮ gut umfasst. Ein unverrückbares Vertrauen, eine echte Begegnung. Eine Wahlverwandtschaft, die Nahrung war und ist.

Marion Tauschwitz erläutert auch, warum es diesen Band nun gibt. Nach der wissenschaftlichen Arbeit für die Biografie – Dass ich sein kann, wie ich bin –, bei der es darum ging, das Selbst als Autorin herauszuhalten im Begreifen von Leben und Werk Hilde Domins, habe es doch noch viele unerzählte Geschichten gegeben, die nach dem Persönlichen im Berichten geradezu verlangten. Fein ziseliert findet dabei ebenso Erwähnung die Ehe Domins mit dem Schriftsteller und Kunsthistoriker Erich Walter Palm. „Contenanceˮ wäre hier wohl ein passendes Wort. Es wäre elegant genug, um erahnen zu lassen, welche Abgründe sich hinter ihm wohl auftun, wenn man der konstanten Erfahrung der Demütigung im Intimsten, die Domins Leben und Eheleben ausgemacht haben, einen tieferen Blick widmet. Neben der Abfolge der Überlebensexile begleitete sie das Verstoßensein im eigenen Garten Heimat. Dort riecht es nach männlicher Eitelkeit, nach Selbstüberschätzung und nach jener gummierten Trampellaune, die wie ein Traktorreifen neben der eigenen Spur die stets frisch keimende Saat nicht sieht, und sie plättet.

Manche greifen – zur Wehr – zur Flinte. Andere zum Stift. Hilde Domin schafft Bleibendes. Immaterielle Worte, die Körper werden. Und sie sind es, sie ist es, Hilde Domin, an die wir uns erinnern, an die Marion Tauschwitz erinnert. Späte, aber nachhaltige Gerechtigkeit.

 

Als ich aus dem Saal in den Hof gehe, schnappe ich einen Wortwechsel auf, der mich zusammenzucken lässt.

Es riecht nach männlicher Eitelkeit, nach Selbstüberschätzung und nach jener wohlfeilen Süffisanz, gegen die noch viele Verse werden fließen müssen.



TAG ZEHN

 

Kaputte Dörfer

 

Der Gehsteig geht glatt, geht gerade, steigt an. Er klebt an der Bordsteinkante. Vorsicht, wildes Gehege. Waffen paffen entlang der anämischen Arterie. Asphaltlust und Pflastersteingeorgien. Baumarkthochglanz, ermattet. Überputzte Armut schafft keimfreie Misere.

  Ich achte dich, das lerne ich zuhaus'. Ich achte dich, das lehrt mich die Schule. Ich achte dich, das lerne ich nie und nirgends. Ich verachte dich: mit meinem Gartenzaun, verachte dich: mit meinem Garagendach, mit der Hecke an der Ecke. Ich verachte dich, weil ich nicht da bin, wenn meine Groteske in deinen Vorgarten sich stülpt. Was soll's! Auch du nicht da. Unsere Dörfer sind vollkommen, sind verkommen, Schnarchgettos zwischen Kartoffelacker und Zubringertrasse. Auf der Terrasse, der abendlichen, nur dunkel Rauschen und feuchte Wäsche.

  Die Dorfdurchfahrten totsaniert. Dorfkerne von Dörfern, die Dörfer nicht mehr sind, die keinen Kern mehr haben. Totsaniert nach DIN. Vorstadtverführung, die nichts misst, was Suburbia superb küsst und sich einverleibt. Leben als ob. Leben als Vorstellung. Rasentapete auf Miniatureisenbahngelände, gerollte Bahnen, geklebte Flechten, versprühte Blüte. Die Vorstellung wird zur Wirklichkeit, die einer Fiktion gleicht, die keiner sich ausgedacht hat. Aber alle nehmen sie hin, und her gibt der Kirchturm sein Geläut für den Lack, der alle Risse kittet.

  Es lag einst am Fluss das Dorf. Heut' fließt verwaltetes Gedöns in Kassen, und Kisten kosten Kummer. Anmutsverweigerer queren das Quadrat und suchen den Kreisel. Kaputt die Dörfer, heil der Rand.

 



TAG ELF

 

Nee, Nee



TAG ZWÖLF

 

Wer die Qual hat, hat immerhin die Wahl.



TAG DREIZEHN

 

Klimawandel

 

Der Sommer atmet sich aus. Der Herbst strahlt in unseren Nachmittag, als wir an der Himmelslinie das Weichbild von Wilflingen sehen. E. und P. sind da, auf der Durchreise von Berlin nach Italien. Röcheln, ruckeln; das Campermobil parken wir vor dem Schloss. Blau-weiß leuchten die Klappläden der oberen Etagen über die hohen Mauern. Wir spazieren los, folgen der Schlosseingrenzung und schauen hinein in die Kirche. E. und P., beide in Italien groß geworden, sie im Norden (der uns ja schon Süden bedeutet), er in der Mitte, beide heute zuhause am Mittelmeer und an der Spree, sausen durch den Kirchraum: zu katholisch, um sie begeistern zu können, zu vertraut. Mich fasziniert eine Christusfigur an der Seitenwand: zu sinnlich, um nicht katholisch zu sein. Das geschwungene Lendentuch verweist auf den Barock, aber ich mag mich täuschen. Der fast nackte Christ hängt an der nackten Wand. Kein Kreuz, kein Kontext. Der polychromen Figur fehlt die rechte Hand. Der grünliche Hautton des Holzes wird überzogen von stilisierten Blutspuren. Aus jener Spur, die vom einstigen Nagelloch entlang des Unterarms läuft, wird durch das Fehlen der Hand das Zeichen einer anderen Verletzung. Was mancher als Verlust empfinden mag, erscheint mir als Gewinn – für diese Darstellung, wohlgemerkt. Dank der durch die Zeitläufte abhanden gekommenen Hand (wo ist sie, was ist geschehen?) ist die Skulptur nun im Gleichgewicht. Das Fragmentarische macht sie ganz. Oder anders gesagt: Es ist der Makel, der geraderückt, was sonst in Perfektion nicht sichtbar wäre.

  Wir schlendern durch die Straßen und Gassen des Dorfes. Wir haben Zeit, bis sich uns die Tür zum Ernst-Jünger-Haus öffnen wird. So gehen wir zum Friedhof, sehen gleich das Grab der Jünger-Familie. Doch: Wo sind die alten Gräber, die richtig alten? Wer früher stirbt, ist länger tot heißt ein gelungener Filmtitel. Hier erschleicht uns die Ahnung, dass früher gar nicht gestorben wurde. Die Steine selbst, die Inschriften, die gewählten Lettern, das Beiwerk, alles spricht eine neue Sprache, zeugt von einer neuen Ästhetik, die mit den Friedhöfen meiner Kindertage nicht mehr so viel gemein hat. Hochglanzpolierte Steine in Laserschnitt, Formen aus Comicstrips, Bildmedaillons und Pseudobronzezweigchen. Hybride Grabmale zwischen deutschem Gartenbeetersatz und südländischer Bodenplattenwucht. Hinter der Gottesackermauer ein Apfelhain. Ewige Verbannung aus dem Paradies, nie endende Versuchung? E. greift, als wir durchs Tor gegangen sind, zu einer der Früchte. Sauer. Sie isst den Apfel dennoch.

  Wieder bergab umrunden wir den Dorfkern ein Stückchen mehr. Die Höfe ähneln sich. Neben wenigen Metern Breite für den Wohnteil schließen sich unterm selben Dach Scheune und Stallungen an. Vor einem der Höfe ein echter Misthaufen, direkt an der Straße. Im Stall einige Kühe. Das große Tor steht offen, die Angeln ächzen unter dem Gewicht der Zeit. An den schiefen Holzplanken werden die Spuren sichtbar, Ausbesserungen, hier und da ein ersetztes Brett. Gewachsene Formen. Fenster und Fassade zeugen von der Nachkriegszeit, vom Stolz neuen Wohlstands. Dann der Stolz von heute, gebunkerte Neubauten aus dem Vorstadtkatalog: der Sohn – die Tochter – das Enkelkind, es blieb ein Baugrund, jetzt bleibt das Leben.

  Plötzlich werden wir lauthals und langhals begrüßt: Ein halbes Dutzend Gänse, die an den Zaun sturmwatscheln – und wäre da kein Zaun, sie würden uns knutschen. Gegenüber eine Gruppe, Nachbarn wohl, die miteinander plauschen ... und die den Gänseüberfall belauschen. Wir lachen uns zu. An Pflaumenbäumen vorbei winden wir uns gen Felder und dann ist sie da, die Referenz: Heimat, von Edgar Reitz. Jeder hat was zu erzählen über die Stunden des Schauens und Eintauchens in diesen Filmkoloss, und wir sind uns einig, wie sehr die Bilder uns begleiten. Mir scheint, unser Gang durch Wilflingen ist wie ein Gang durch die Zeitläufte von Heimat.

  Wir gehen den Feldweg zurück und schließen nun das letzte Stück des Rundgangs. Vor dem Jünger-Haus fragen wir uns, was ihn hierher gebracht hat, und vor allem: Was hat ihn hier gehalten? Wir lugen in den Garten. E. meint, der Buchsbaum erinnere sie an Friedhöfe. Ich verbinde damit eher französische Schlossgärten. Referenzen, manche haben wir gemein, andere allein.

  Wir setzen uns vor dem Kindergarten auf Palettenbänke. Ich krame das Buch hervor mit Jünger-Texten zur Kunst. H. gab mir den Band vor meiner Antrittsfahrt nach Sigmaringen. Nun solle ich ihn haben. Von Jünger habe ich bisher nie etwas gelesen. E. und P. sind da mehr im Thema. Sie stöbern in den Zeitungsartikeln, die in den Buchklappen stecken, Berichte zu Jünger, Jubiläen, Preisverleihungen, Rezensionen, Notizen zum Haus und seiner Sanierung. Mal liest der eine, mal die andere etwas daraus vor. Mein Ohr hängt sich fest an einem Textfetzen von Gottfried Benn, der in einem Brief der 1940er Jahre über Jünger schreibt: „Er hat in genügender Menge das Mulmige, ohne das die Deutschen den Geist nicht ertragen, das Gedrückte, leicht religiös Gefärbte, das den Autor so angenehm harmlos u. achtenswert macht, die Klarheit u. Schärfe des durchbrechenden Genies mangelt ihm völlig, jede Latinität: – kurz: Timmendorfer Strand contra Portofino.ˮ

  Zur vereinbarten Zeit erhalten wir Zutritt zum Haus. Wir werden freundlich empfangen und kennerhaft durch die Räume geführt. Schnell erfahren wir, dass es die Familie der Schenken zu Stauffenberg war, die Jünger einlud, in Wilflingen sich niederzulassen. Die Familie war infolge des Attentats durch Claus Schenk Graf von Stauffenberg in Sippenhaft genommen und später in die alte Oberförsterei gegenüber des Schlosses verbannt worden. Im Schloss selbst kam im Herbst 1944 einige Wochen lang die Hohenzollern-Familie unter, die ihrerseits aus dem Sigmaringer Schloss verbannt worden war, um dort die zwangsexilierte Vichy-Regierung unterbringen zu können. Nachdem die Hohenzollern nach Sigmaringen – in eine andere fürstliche Bleibe – zurückgekehrt waren, logierte der Vichy-Premierminister Laval, ihm folgend einige Ministerien, auf Schloss Wilflingen. Als später die Stauffenbergs Ernst Jünger einladen, lebt er zunächst im Schloss. Bevor die Familie wieder die Straßenseite wechselt, wird saniert, schließlich tauscht man den Wohnort und Jünger zieht ein in die Försterei, und sollte dort ein knappes halbes Jahrhundert bleiben. Die über 70 Auslandsreisen, mal länger, mal kürzer, dürften ihm die notwendige Abwechslung gebracht haben, und die konkrete Verbindung mit der Welt.

  Das weitläufige Haus ist, trotz umfangreicher Sanierung, geblieben, wie es bei Jüngers Tod war. Die mehrere zehntausend Kreaturen umfassende Insektensammlung ruht kompakt in einem Doppelschrank der Treppendiele. Jedes Objekt im Haus erzählt eine Geschichte, und alle Geschichten hängen an einem sichtbar-unsichtbaren Faden, der sie miteinander verbindet. Die Anordnung gleicht einem Renaissance-Gemälde, jedes Ding hat seinen Platz, jeder Platz seine hierarchische Bedeutung. Die Bibliothek, das Arbeitszimmer, sie zeugen vertraut von einer dem Geistesleben gewidmeten Existenz. Auf einer Bretterreihe zwischen den Fenstern entdecke ich ganz oben gut zwanzig Bände der Schriften von Carl von Linné, dem auch als Linnaeus bekannten, einflussreichen schwedischen Botaniker, dessen Heimatregion in Småland ich diesen Sommer erkundet und über die ich geschrieben habe. Der Käfersammler Jünger, nach dem einige Käfer, die er entdeckte, benannt sind, wird sich im Linnéschen Kosmos kenntnisreich bewegt haben, bleibt zu erahnen.

  Selbst das Badezimmer, mit Duschvorhang und -vorleger in blassrosa, vermittelt den Eindruck von Konzentriertheit bei jeder Geste. An der Innenseite der Tür wuchert ein Schilderwald wie in einem Jugendzimmer, RESERVIERT – BESETZT – DO NOT DISTURB …

 

Sollen wir wirklich nicht stören? Oder ist er es, Jünger selbst, der noch immer stört? Wir erfahren davon, wie schwierig es gewesen sein soll, das Museum überhaupt zu eröffnen, seinerzeit. Und heute? Die Wogen um den Autor scheinen sich geglättet, wohl auch, vermute ich, weil das Werk aus dem Fokus geraten, die Generation der Jünger-Jünger und der Jünger-Verdammer verstummt ist.

  Was uns bleibt, und hierbei kann ich mangels Kenntnis des Jüngerschen Werkes nur allgemein sprechen, ist die Aufgabe, uns selbst und unsere Haltung immer wieder zu betrachten und gegebenenfalls zu korrigieren – und die Werke jener, die wir durch Hörensagen mit ekelverzerrtem Gesicht abtun, wirklich zu lesen. Oder haben wir Angst, unserem eigenen Urteil zu vertrauen, fehlen uns gar die Kriterien, uns ein Urteil zu bilden? Vorwürfe moralisch-politischer Natur – ein Exerzitium, mit dem auch unsere Gegenwart sich so blendend hervortut – sagen ja nicht nur etwas aus über den Beschuldigten, sondern auch über den Kontext und die Ankläger.

  Eine Gesellschaft braucht, um funktionieren zu können, Tabus. Das habe ich lange nicht verstanden oder wahrhaben wollen. Aber eine Gesellschaft braucht auch die Feinjustierung der Debatte, die Raum lässt, Tabus zu benennen, zu hinterleuchten, sich anzusehen. Woher kommen sie, wozu taugen sie? Dass Kritik nicht gleichbedeutend ist mit Zersetzung, das sollten wir uns immer wieder vor Augen halten. Etwas abzutun bedeutet die Vermeidung der Auseinandersetzung. Aber es bedeutet nicht, dass etwas, das da ist, dadurch plötzlich verschwindet.

  Mein Besuch im Jünger-Haus ist Entdeckung, ist Neugier. Aber ich merke, wie ich selbst versucht bin, diesen Besuch in vorauseilender Konformität im Gespräch mit anderen entschuldigen zu wollen. Ganz als gerate in Verdacht, wer sich dafür interessiert. Verdacht? Wovon eigentlich? Ich werde doch nicht zur Frau, wenn ich Feminist bin; ich werde doch nicht schwul, wenn ich für die Verteidigung anderer Daseinsformen als jener der Heteronormativität eintrete; ich werde doch nicht zum Nazi, wenn ich eine Hitler-Biografie lese.

  Wenn geistiges Interesse an einem Thema verdächtig macht, dann ist es ums Klima nicht gut bestellt.




TAG VIERZEHN

Ausflug nach Meßkirch. Rats-Metzgerei, Angebot des Tages. Still stehende Zeit. Auf der Heimfahrt, im Bus, Oberländer Ackerland. Aufs Grün schauen und Grün sehen, nicht  Kotelett und Mettwurst. Alles hat mit allem zu tun. Müde kehr ich heim. Heim? Zurück ins neu Vertraute.



TAG FÜNFZEHN

Der Zirkus ist da, hurra!

Soll ich oder soll ich nicht? Jedes Mal, wenn ein Zirkuszelt sich in den Himmel streckt, frage ich mich, ob das kindliche Auge noch einmal zu erwecken ist ... oder ob der Kauf eines Tickets nur der Eintritt wäre ins Reich der Illusionsverluste. Diese Sehnsucht, die mich überkam, damals, mehr auf dem Platz ums Zelt, bei den Wagen, weniger beim Spiel drinnen. Heute hier, morgen da ... Losziehen, weggehen, die Welt sehen, die draußen, die drin. Weggehen ... vor allem das. 

"Löwen"-Steak.

Célines Absteige in Texas-Manier. 

 

 

 




TAG SECHZEHN

Inzigkofen,

ehemaliges Augustiner-Chorfrauenstift

Auge um Auge, Zahn um Zahn

Inzigkofen,

Stiftskirche (St. Johannes Baptist)

fiat lux



Inzigkofen,

Stiftskirche (St. Johannes Baptist)

 

Außergewöhnliches Kriegerdenkmal. Am Eingang zum Kirchraum, diese Gedenkcollage, gerahmt, an die Wand genagelt. Keine Namen in Stein gemeißelt, abstrahiert; doch Namenszüge unter Porträtmedaillons. Bilder aus dem Familienalbum. Passfotos. Fast alle tragen Uniform. Uniformen aller Formationen. Abzeichen, Schulterstücke. Helme, Kappen, Mützen.

Während gemeißelte Namen den Einzelnen subsumieren, seine Taten aufgehen lassen zwischen zwei Jahreszahlen, 1939 – 1945, wird hier jedes Gesicht lebendig ­– und die Taten singularisiert. Das Sterbedatum steht bei jedem Namen. Was ist geschehen, am 14.9.1941, am 30.12.1942, am 2.4.1945? Was und wo? Was haben sie getan, für wen? Welche Namen jener, die unter den Kugeln dieser hier starben, stehen an Gedenktafeln, in Stein gehauen, auf dem Dorfplatz neben der Kirche, irgendwo in der Auvergne, irgendwo in den Weiten vor Lwiw?

  Es bedarf eines größeren Kraftaktes der Beschönigung, den gefallenen Sohn oder Mann oder Bruder oder Vater einen Helden zu glauben, wenn ein Gesicht bleibt, wenn die Uniform, die der Welt so viel Unheil gebracht hat, weiter für alle sichtbar vor dem Tor Gottes prangt.

  Umso verwunderlicher, dass dieses Bild der Bilder den Ikonoklasmus der Nachkriegszeit überstanden hat – seit wann hängt es dort? – und immer noch dort hängt. 



Original und Kopie. Bild und Abbild. Handfestes und Flüssiges. Fels und Wasser. Greifbares und Spiegelung. 


Donaunachwuchs. Sonnenbaden auf Kieseln, unter der Wasseroberfläche, dort ist es schön warm. Eine Handbewegung ohne Schattenwurf, einen guten Meter vom Ufer entfernt, und schon schießen die Fischkörper, hunderte, auseinander, nur um sich gleich wieder zu sammeln, zu schützen, bevor sie erneut in alle Richtungen zappeln, als ich meine Stimme leise übers Wasser schicke. Die Sonne wärmt auch mich und in der Hocke wippend blicke ich aufs Uferschauspiel, ein Lächeln auf den Lippen.


Inzigkofen,

Blick auf den Amalienfelsen, Blick vom Amalienfelsen.

 

Paris, Sigmaringen. Ein Buch, in die Landschaft gebettet; ein Floß auf dem Fluss. Als wär's ein Stück Felsen.

Amalie Zephyrine von Hohenzollern-Sigmaringen, in Paris geborene deutsche Prinzessin von Salm-Kyrburg.

Die französische Geschichte Sigmaringens, lange vor Vichy hat sie begonnen.

Amalie, die den Staat Hohenzollern vor Napoleons Mediatisierung rettete, gestaltete den Landschaftspark in Inzigkofen, ließ den Ort sich als Sommerresidenz gefallen, in späten Jahren. Einst war sie geflohen aus dem engen Sigmaringen. 

 

Geschichten, verwoben und gespiegelt, Fiktion und Historie: Paris, Sigmaringen – oder die Freiheit der Amalie Zephyrine von Hohenzollern, ein Roman von Gabriele Loges, Gmeiner-Verlag/Klöpfer & Meyer.

 

Ein Stück Felsen als Floß ...

 



TAG SIEBZEHN

Sigmaringer Heimatmuseum "Runder Turm".

 

In meinem im August in Schweden verfassten Text Ein Kontinent ein jeder schreibe ich an einer Stelle: »Unterschätze nie die Provinz, weniger noch das platte Land«. 

  Das gilt auch hier, wenngleich das Land nicht platt ist.  In einer Vitrine des Museums, mit liebevoll gestalteten Beschriftungen, sticht die Präsentation des berühmten Sohnes Theodor Bilharz hervor. 

  Die einst nach ihm benannte, da von ihm entdeckte Wurminfektion, die Bilharziose, soll infolge der Tilgung deutsch klingender Namen im Großbritannien des Ersten Weltkrieges getilgt worden sein und heißt seitdem Schistosomiasis – ganz wie seinerzeit aus der Familie Sachsen-Coburg-Gotha die filmreifen Windsors wurden. 

Bilharz starb in Kairo und liegt dort beerdigt. Seine Entdeckung des Krankheitserregers und die medikamentöse Behandlung hat vielen Menschen das Leben gerettet.

 

»Unterschätze nie die Provinz«.Im Jahr 2020 trat eine Erfindung aus Mainz – An der Goldgrube 12 – ans Tageslicht und hilft seither unzählige Menschenleben zu retten. Wenn der Zugang zur Prävention auch jenen gewährt würde, die in Teilen der Welt leben, in denen  Billharz' Entdeckung einst für Fortschritt sorgte, wäre der Fortschritt, der menschliche, auch ein heutiger.

 


Schaufenster in die Zukunft ...



TAG ACHTZEHN

Straßenwirrwarrunterführung – Sonntagsblues – Wandgesprühtes.

Ja, lasst uns Pandas sein. 

Oder Löwenzahn und Stiefmütterchen und XYZ: knappe Ressourcen

teilen und die Widrigkeiten gemeinsam meistern.

 


Sonntagsspaziergang. Die Beschaffenheit der Welt, die ich durchstreife, sie löst etwas aus, löst Sedimente junger Jahre. Diese bildliche Dreifaltigkeit scheint mir wie das Konzentrat einer Welt, die ich überwunden glaubte, sie legt sich mir in die Hand wie die Pastille voller Desinfektionskraft, die ich nur aufzulösen hätte im Fluss eines Stimmungsromans, der auf seinem Weg nach vorn einen keimfreien weißen Streifen hinterließe ...

 


Sonntagsspaziergang, Teil zwei

 

Blüten der Amtsstuben, blechern duften sie am Wegesrand. Der Bequemlichkeitsweg ist ein Weg für bequemes Denken. Wortschöpfungsfestivals warten mit ersten Preisen! Wo asphaltierte Arterien für Bequemlichkeitskisten Land versiegeln, werden solche Blüten nicht gebraucht. Wer geht auch schon zu Fuß über die ergrauten Hügel!

 

Eigene Zeilen zeichnen sich mir auf die Lippen:

»Am Hang links ziehen Vorstadteigenheime an dir vorüber. Träume vom besseren Leben, mitten aufs Land verpflanzt. Hier prallt die Scholle gegen den Jägerzaun. Ein geplatzter Stadtplan, der jedes umliegende Dorf mit seinen Spritzern geschwängert hat.«

(Weissbuch, unveröffentlicht).

 

»C'est la zone«, diktiert mir mein französischer Souffleur im Kopf. Das Wörterbuch, später, wird mir dies hier als Äquivalent ausspucken:

»Vorortgürtel mit problematischer Sozialstruktur.«

 

Wenn die Norm das Getto ist.

Wenn Individualität sich ausdekliniert und wenn sich ähnelt, was krampfhaft versucht, unähnlich zu sein.

 

Und nochmals zitieren sich eigene Zeilen her, dann geh' ich weiter, suche nach Luft, nach Horizont, nach einem anderen Ufer:

»Aber auch diese Form der Marktwirtschaft, also die gerechte Teilhabe am Gemeinsamen und die soziale Durchlässigkeit, ist, selbst wenn der politische Kanon sie uns heute als potemkinsche Lieder vorkrächzt, weggespült, hat sich gewandelt zur Verwaltung von Bedürftigkeit für die einen, zur steueroptimierten Schlupflochinstanz für die anderen, und dazwischen braust das unstete Meer der Mitte, das seine Ufer bewacht.« (Der Ring der Nie Bezwungenen, Sax-Verlag, 2021)

 



TAG NEUNZEHN

Ein Haus am Ufer.

  Ein Ufer als Zufluss.

    Bohrer kreischen, oder sind's die offenen Münder?

      Zähne würden klappern, wenn sie nur könnten.

        Das Relief über den Rundbogen, die Angst hat's einem wohl nicht genommen.

          Aber das sah nur, wer den Kopf hob 

            und das Lächeln auf Augenhöhe verschmähte.

              Zuckerbrot und Peitsche.

                Ein Ärztehaus.

                  Ein Ärztehaus am Ufer.

                    Ein Ufer als Abfluss.

                      Louis Ferdinand Prince des Touches. Céline.

                        Hier hat er ordiniert, hat Ordnung gebracht ins Leid.

                          Ein Landarzt auf Zeit.

                            Den Zahn gezogen

                              Die Zeit verflogen.

Was bleibt?


Der Heilige Nepomuk, auf dem Hinweg, spielt Theater vor Donauwellen. Sandmasse als Boden.

Die Habsburger bei den Hohenzollern. Er geleitet mich sicher ans andere Ufer. Am Abend, der Rückweg

in Dunkelheit. Weggetaucht in die Farblosigkeit ist das Gewand. Ob die Brücke hält? Kein Ort. Nirgends.

Kein Mensch. Niemand. Es leuchten die umsponnenen Pfosten von Balkonen, die nur das Licht betreten

kann. Ich will dem Geleit Glauben schenken. Auf der anderen Seite ist die Nacht nicht toter, aber näher

bin ich meinem Bett.



TAGE ZWANZIG-EINUNDZWANZIG-ZWEIUNDZWANZIG

 

 

 

Das

Schaufenster

ist

leer,

aber

hinter

den

Kulissen

wird

gearbeitet.



TAG DREIUNDZWANZIG

Begegnung

 

Frau C. empfängt mich auf der Treppe. Das Haus duftet nach Bohnerwachs. Eine Begrüßung, ein Lächeln – und von da an verstehen wir uns.

Über die Zeit der Vichy-Franzosen werden wir sprechen. Licht streut sich auf die ganze Etage, als wir uns setzen an den Tisch, der schon viele Gedecke und Handrücken getragen hat. Ein einladendes Zuhause, das Zeitlosigkeit atmet.

  Wir nähern uns dem Thema, schweifen ab, kommen auf Seitenwegen zurück. Es gibt keine Pfade, die nicht betretbar scheinen. Frau C. berichtet vom September 1944. Einquartierung. Plötzlich heißt es, sagt sie, »die hier sind für Sie«. Und vor dem Haus steht ein französisches Paar. Sie werden nun in der Mansarde wohnen, nach den anderen, den deutschen Einquartierten, und vor den nächsten, den Besatzungsfranzosen. Die aufgezwungenen Gäste werden fast zu Freunden. Wir schauen Fotos an, lesen in einem Tagebuch der Zeit. Mein Blick setzt sich fest an den bunten Scheinen, Behelfsgeld der französischen Zone nach Kriegsende. Ein Schloss, auf dem 5-Pfennig-Schein, als papierner Fels in der Brandung.

  Eine Begegnung, was ist das? Ich frage es mich oft. Oft gibt es keine Antwort. Aber wenn sie geschieht, die Begegnung, wird sie zur Evidenz.

Begegnung ist, wenn aus dem Nichts ein Gespräch erwächst, das sich anlässt, als greife man den Faden nur auf, der einen schon lange miteinander verbindet. Ich bin nur ein Gast auf der Durchreise. Frau C. aber, sie ist der ausgestreckte Arm in jene Zeit, die einen Kalksteinsplitter herüberreicht ins heutige Bewusstsein.

 

Als ich das Gatter hinter mir schließe, ist der Tageshimmel zur Nacht geworden, in mir aber leuchtet die Gewissheit, jemandem tatsächlich begegnet zu sein.



TAG VIERUNDZWANZIG

Immer wieder Sonntag

 

Denselben Fehler wie die Woche zuvor, nein, den mag ich nicht begehen. Ich greife mir das Fahrrad und fahre zum Wald. Josefslust, die Wilddomäne der Hohenzollern, das mag ich erleben. Der Radweg hinaus aus der Stadt steigt steil an und erreicht auf der Höhe die »Allee der Hundertjährigen«. Eine Initiative, erzählt mir ein Schild, vom vorigen Bürgermeister erdacht. Wer hundert wird in Sigmaringen, dem pflanzt die Gemeinde hier oben einen Baum und stellt eine Tafel davor, mit Namen und Geburtstag. Als ich weiter radle, staune ich, wie viele Bäume hier stehen, einige Dutzend. Am Wildpark finde ich die Tore geschlossen, die Parkplätze voller Blech unterm Laub. Ich kann den Eingang nicht finden, will ihn wohl auch nicht finden, gereizt wie ich bin vom Radeln neben der Landautobahn. Erst wenn Radfahrer Radwege planen und bauen ... ach, was soll's …

  Ich strample weiter, zu warm, zu kalt, der Herbst weiß nicht, was er will. Ich noch weniger, so lasse ich mich treiben von der eigenen Muskelkraft. Schon bin ich vor den Toren von Krauchenwies. Die Luft hängt noch kalt über den Wiesen. Ich wollte ihn mir ansehen, den Ort. Nur aus einem Grund: Hier leistete ab dem Frühjahr 1941 Sophie Scholl ihren sechsmonatigen Reichsarbeitsdienst. Diese Quadratmeilen Umland um Sigmaringen, sie tragen auf ihrem Rücken so viele Male der Geschichte. Am Strandbad aber drehe ich links und verliere mich weiter hinein in die Wälder. Auf einer Lichtung bleibe ich stehen, wärme mich in der Sonne. Nach einer Weile ohne Richtung lande ich in Ennetach. Die Feldwege dorthin, entlang an der einspurigen Bahnlinie, an Forsthäusern und ländlich belassenen Einfriedungen, durch Maisfelder und an Jungstierwiesen vorbei, bringen mich zum Lächeln. Landleben ja, zersiedelte Provinz nein. Im Ort sitzt ein Storch auf dem Kirchdach. Ist er echt? Als ich den Schnabel gegen den blauen Himmel sich abzeichnen sehe, mal hier, mal dort, habe ich die Antwort. In der Konditorei schwelge ich in rosaroter Mousse und heißer Schokolade. Bei der Weiterfahrt fällt mir ein einfaches, in seiner Einfachheit schönes Scheunentor auf. Der Wegweiser sagt mir, ich bin kurz vor Mengen. Als ich das Städtchen erreiche, liegt es sonntäglich brach. Der Altstadtkern wird saniert. Woran das nur liegt, dass diese deutschen Landstädtchen aussehen wie in Plastik gegossene Häuserzeilen zwischen Miniatureisenbahntrassen? Eher Planierung als Sanierung. Die Martinskirche, die schaue ich mir an. Stille. Schönheit. Die gemalten Szenen an der Tonnendecke sind einzigartig. Frühes Nachmittagslicht wirft sich durch die Fenster, erleuchtet eine Pieta. Draußen in den Straßen schauen Schaufenster die Passanten an und bleiben doch geschlossen. Ich mache mich auf den Weg zum Friedhof, die Arbeit verlangt's. Dort will ich nach dem Grab von Jacques Doriot sehen. Nach mehreren Rundgängen finde ich den Stein, die Schrift ist fast erblasst, vom einstigen Gold bleibt nur eine vage Ahnung. Doriot, wer das war? Der wohl ambitionierteste Machtpolitiker der Vichy-Garde, von der einstigen Ultra-Linken hinüber katapultiert zur extremen Rechten. Er galt lange als der Wunschkandidat der Nazis für die Staatsspitze Frankreichs nach dem deutschen Sieg, als »Führer français«. So sehr, dass er den Braunen gar schon gefährlich zu werden drohte, wurde gemunkelt. Man hatte ihn einquartiert am Bodensee, auf der Mainau. Pétain und Laval in Sigmaringen? Ihm verhasste Figuren. Auf dem Weg dorthin wurde sein Wagen, Ende 1944, von alliierten Tieffliegern angegriffen, er war, so hieß es, sofort tot. Beigesetzt wurde er in Mengen. Alliierte, wirklich? Lange hielten sich die Ideen eines Komplotts.

  Mir scheint, es hat seine Richtigkeit, dass das Grab nun fast brach liegt und langsam in die Zeit hinweg vermodert. Ein Stein steht ja immer nur da für die, die zurückbleiben. Relevant für die Nachwelt ist das Vergegenwärtigen, wie unheilvoll Figuren wie Doriot sind, wenn man ihnen die Macht, die sie sich nehmen, zugesteht. Keiner agiert im Vakuum.

  Mir bleibt für heute der Rückweg durchs Donautal, Scheer, Sigmaringendorf, Sigmaringen capitale. Die Beschilderung führt krumm und quer durch Nicht-Orte, auf langen Strecken hat das Ganze mit einem »Donauradweg« so gar nichts zu tun. Doch auf der anderen Seite des Flusses, eminent und wie selbstverständlich, das Asphaltband für motorisierte und lärmende Geschosse. Warum nicht tauschen?

  Eine suburbane Trilogie des Wortwitzes, wohl eher ungewollt, erheitert meine letzten Kilometer.

Der diskrete Charme der Bourgeoisie

Eine Variation von 

»Dichtung und Wahrheit«?

 

Die Kombination von Regenbogenfahne, Europafahne, SPÄH DICHTUNGEN UND MEHR ist einzigartig, das Ganze als Dorfrandstolz am brachen Acker. 

Mein Geist strampelt sich durch alle denkbaren Variationen des »MEHR« ... 

... lang strecken und kicken ...




Zur Fortsetzung im Menü neben SIGMARINGEN rechts auf das + klicken, dann SIGMARINGEN_2 auswählen. Bis gleich!