FIKTION


Fiktion / roman / WeissBUCH / reinwanderer

Reinwanderer

(...)  Später, als er zuhause ist, die Straßen hinter sich weggefaltet und die Tüten, mager bepackt, nach oben verfrachtet hat, setzt er sich an den Tisch der tausend Leben und öffnet erneut das Heft. Warum hat er das geschrieben, er würde es gerne malen, anstatt Verse zu setzen, die Verse nicht sind.

Die Zinkdächer sterben grau in den Abendhimmel hinein. Das Verschwinden der Konturen ins Dunkel geschieht unaufhaltsam, mit der Verlässlichkeit des Wiederholungstäters, der tut, was er tun muss, der geschehen macht, was so und nicht anders zu geschehen hat. Er öffnet den linken Flügel des Fensters und kauert sich auf den verfaulenden Rahmen, die Hände ans Gitter geklammert. Splitter alter Farbe heften sich an die Finger. Dort liegt sie nun, die Dachlandschaft der Lichterstadt. Doch kein Strahl funkelt auf den Gesimsen und Vorsprüngen, kein Licht leuchtet aus den Wohnhöhlen hervor, von den Habenichtsen und den Schlauen unter jedem Winkel der Dachstuben über Winter und Sommer hinweg geschaffen. Kein Echo verfängt sich in den Stalagmiten aus Türmchen, Gauben und Schornsteinhauben, nur ein dumpfes Schweigen vibriert über allem. Er erkennt nichts darin. Er sitzt nur als Fremder im Urwald. (...)



Fiktion / Kurzprosa / Stünz

Stünz

Die Wurzner Straße liegt aufgeschlitzt, Männer fummeln in ihrem Schoß und kitten Kabel wie zerschossene Sehnen. Nur ein gelber, lauter Wurm frisst zuzeiten sich entlang, sonst bleibt es stumm. Kadaverflanieren, allen Windungen entlang, hinauf bis zur Kirche, wo die Bitterkeit des Dungs noch nicht lang verdeckt ruht von Gräbern und Autohausvitrinen. Wie ein Zahnrad greift stumm jeder Körper in die Zacken der anderen und treibt das Leben voran, Drehorgel ohne Pfeifen. Ich nehm den Weg ins Grüne, hindurch die Abklatschwelt der Lauben, Entwürfe für die Ewigkeit. Vorbei an welkem Fliederstrauch und Birnbaumranken reiht sich Schritt an Schritt bis zur Biegung unter der Bahn. Ein Tatort-Tunnel mit unpässlichem Ausgang. Feucht harren die Steine der niederen Decke, mein Auge sieht Blaulicht und Spürhundspuren, dann scheint wieder der Himmel über dem Park, umzingeltes Land von Bauernwiesen. Stumpf raunen Parkapaare an mir vorüber, austauschbar, und ich ahne, was das bedeutet, verrentet: Spielfiguren der Zeitläufte, harmloses Leergut auf Nebengeleis. Nur die Erpel auf dem Teich kreischen Farbe ins Bild. Ein Köter kläfft. Sanft dehnt sich das Gras hinter zum Bachbett. Meine Fersen duellieren sich mit Knie und Knorpel, der Lauf findet hier ein Ende. Mein Rückmarsch ist eines Alten würdig, nur mein Hochmut flammt wie Phosphor und verblendet, verblutet, verblasst.



Fiktion / Kurzprosa / Schattenkabinett

Schattenkabinett

Als das Kind um die Ecke gebogen war, löste er sich vom Beton und trat selbst auf die Straße. Nun war es dunkel, er hatte lange warten müssen, dass die Bewegung sich legt. Aber ein Kind, um diese Zeit? Noch hörte er den Ball hüpfen, dann nur die Ruhe. Auf der anderen Seite surrte das Licht der Wachlaternen, manchmal drangen Stimmen herüber - Soldaten, das Klacken einer Autotür. Doch in dieser Welt hier war alles still.

Horchen, riechen, mit den Fingerkuppen auf der rauen Oberfläche der Mauer entlang streichen, oder gar mit der Zungenspitze; jetzt konnte er ungehindert alles nachholen, was tags unmöglich war. Ein Schatten brauchte Licht, ein Schatten brauchte auch Dunkelheit, sonst verbrannte er. Der Laternenschein war genau richtig. Er konnte sich aufbauen, beim Gehen unter dem Lichtkegel langsam größer werden, sich gegen Wände und Mauern, parkende Autohüllen und flüchtige Baumstämme und Schilder verzerren, um sogleich wieder abzutauchen in die dunklere, alles verschlingende Nacht. Die Stadt war Stadt. Ein Janus. Ein Zwilling.

Der Schatten erreichte einen Platz. Dort traf er auf Zeichen, die Spur geworden waren. An den Fassaden brannten Lichter. Er konnte nicht zu den Menschen, sie würden sich erschrecken. Über Steinplatten und ungeplätteten Sand streifte er an einem erloschenen Wasserspiel und einer zerfetzten Lache vorbei, um nach der dritten Kreuzung rechts wieder auf die Mauer zu stoßen. Er setzte zum Laufschritt an und flog nun entlang der gegossenen Kieselkilometer, inszenierte einen flackernden Tanz wie im Drehkino: einmal rundherum im Insel-Karussel, dann war's auch gut!

Als der Schatten müde war, Schatten zu sein, hielt er inne, setzte sich, den Rücken abgestützt, und dachte nach. Nichts.

Er hörte einen Ball hüpfen, kurze Schritte tapsen. Dann bog ein Kind um die Ecke. Es war das Kind. Es war Kind. Der Ball kam zum Stillstand.

Das Kind kniete nieder, legte das Ohr auf das kalte Pflaster, rutschte auf dem Hosenboden bis an die Kante, wo der Schatten saß, und lehnte sich dagegen. Die Wand hinter dem Kind lag im Dunkeln. Den Schatten gab es nicht mehr. Nur das Kind saß da, den Ball unterm Arm, und wartete, bis die Zeit vorüber war.